Rotraud A. Perner

Abschied von Mundl Sackbauer

 

Der Volksmund sagt, man muss das Auto schmieren und nicht die Straße.

Auf Schulunterricht angewendet, heißt das: man muss die Lehrkräfte so ausbilden, dass sie auch mit einer verstörenden, was bedeutet: verstörten Schülerschaft zeitgemäßen Unterricht abhalten kann.

In meinen Stress-Studien mit niederösterreichischen Pflichtschul-Lehrkräften 2007 und 2008 (veröffentlicht als „Mut zum Unterricht“ und „Feindbild Lehrer?“, beide aaptos Verlag) sagten diese, früher hätten sie ein bis zwei Störenfriede in der Klasse gehabt, jetzt seien es ein bis zwei Drittel. Und es wäre nicht der Schalk, der den Kindern und Jugendlichen im Nacken säße, sondern Gewaltbereitschaft bis zur Brutalität. Resümee: Die Kids sind traumatisiert.

Ein seelisches Trauma besteht in einer Gefühlsüberflutung auslösenden Erfahrung, die mit den vorhandenen psychischen Ressourcen nicht bewältigt werden kann. Je jünger man ist, desto massiver ist die Wirkung – je erfahrener, desto mehr besteht die Gefahr des Abstumpfens. Solche Auslöser können Dauerstreit zwischen den Eltern, verbale oder körperliche Gewalt live erlebt – oder am Bildschirm abgeschaut darstellen. Auch hard-core- Pornografie hat auf den ersten Blick traumatisierende Wirkung und führt vielfach zu Wiederholungszwängen: man will das Verborgene des Unverstandenen herausfinden und sich immer wieder beweisen, dass man sich nicht schreckt.

Deswegen bin ich auch gegen den neuen Trend, Kinder „resilient“ – widerstandsfähig – zu „machen“. Erstens beinhaltet das „machen“ schon eine gehörige Portion von Gewalt, und zweitens verliert man dadurch die Selektionsfähigkeit des Gewissens: man erträgt ungerechte, unfaire, unethische, Gesundheit schädigende Gegebenheiten und ist noch auf sein Durchhaltevermögen stolz, wo man einfach nicht ertragen sondern Protest einlegen und Widerstand leisten sollte.

Wenn Lehrkräfte nach psychologischem oder sozialarbeiterischem Beistand und Time-Out-Interventionen rufen, zeigen sie wohlmeinendes Vertrauen auf eine allumfassende Kompetenz dieser Berufe. Sie ist leider unangebracht.

Psychologen lernen im Universitätsstudium testen und forschen, Gesprächsführung aber erst in Zusatzausbildungen zum klinischen oder Gesundheitspsychologen, oder in Psychotherapieausbildungen; Sozialarbeiter lernen zwar etwas mehr Gesprächsführung, sind aber daraufhin ausgerichtet, die sozialen Lebensumstände zu verbessern, was auf den Schulunterricht angewendet – wofür sie nicht ausgebildet sind – für Integration in die Klassengemeinschaft zu sorgen und nicht durch Exklusion, auch wenn sie nur temporär ist, zu stigmatisieren. Das verstärkt nämlich nur das Bedürfnis nach Anerkennung, und die erhält man in der Klasse noch immer zumeist durch Opposition gegen die Lehrerautorität.

Das Problem sehe ich darin, dass viele, die sich den Kopf zerbrechen, wie man schulisch mehr Eliten züchten könnte, ignorieren, dass unsere non-egalitäre Gesellschaft nicht nur aus „Spitzen“ besteht sondern auch aus einer breiten Basis, der es an Sozialkompetenzen für’s Überleben fehlt – und außerdem auch an Berufsmöglichkeiten für Menschen, die leicht an die Grenzen ihrer Qualifizierbarkeit geraten.

Es stimmt schon, dass die Umwelt einen wesentlichen Beitrag dafür darstellt, ob jemand in seinem Potenzial gefördert wird oder verkümmert, und dass man mit einer Veränderung der Schulorganisation einiges verbessern könnte. Aber gleichzeitig gehört Lehrkräften beigebracht, wie man „sozialpädagogisch“ unterrichtet. Ich habe das in der von mir erfundenen Methode „PROvokativpädagogik“ (Originalfassung ab März 2015 wieder als Masterstudium an der Uni for Life/Universität Graz) in die Realität umgesetzt – und der Erfolg meiner Studentenschaft beweist es.

Wenn man sich nach wie vor am mariatheresianischen Modell des autoritären Paukens orientiert, bekommt man bei den heutigen Kids, die sich an den antiautoritären Medien-Vorbildern orientieren, Widerstand. Dazu zähle ich nicht nur Film und Fernsehen, sondern auch die mediale Begeisterung über Wut-Bürger und Wut-Omas, die stellvertretend den eigenen Frust ausagieren.

Ich plädiere dafür, den einzelnen Schulen mehr Eigengestaltungsmöglichkeiten zu geben, Lehrkräfte in „Beziehungsunterricht“ auszubilden und zwar an den Pädagogischen Hochschulen samt Übungsschulen, die Universitäten in Hinsicht auf Forschung und Grundlagenaufbereitung von der Ausbildung aller pädagogischen Berufe zu entlasten und das Bildungsministerium als Service- und Kontroll- bzw. Instanzenstelle zu definieren. Und ich plädiere für eine begleitende Erwachsenenbildung – nicht nur für die Eltern, die meist genauso ausgepowert sind wie die Lehrkräfte, sondern für alle: wenn uns ein prosozialer Nachwuchs wichtig ist – und nicht nur eine anonyme Masse von Pensionseinzahlern – müssen wir alle Kinder und Jugendliche ernst nehmen, wohlwollend und respektvoll behandeln und nicht mit ihnen konkurrieren. Dazu braucht es Vorbilder – und das sehe ich als eine medienpädagogische Herausforderung für unsere TV-Anstalten.

Rotraud A. Perner, Juristin, Pädagogin, Psychoanalytikerin, Sozialtherapeutin und evang. Theologin, Universitätslehrerin für u. a. Didaktik der Gewaltprävention an der Universität Wien und PROvokativpädagogik an der Donau Universität Krems und neu Universität Graz.

erschienen in

Salzburger Nachrichten
06. Oktober 2014