Schummeln

"Perners Notizen" | Wiener Zeitung

„Perners Notizen“ in der
„Wiener Zeitung“

Worte haben Suggestivkraft. Beispielsweise der Begriff „Schummeln“. Kaum wahrgenommen, löst er wohl bei allen Menschen, die einmal Schularbeiten oder andere Prüfungen ablegen mussten, Erinnerungen aus: angenehme, wenn man mit dieser „Krücke“ erfolgreich war, unangenehme, wenn man Misserfolge einstecken musste. Zu den Misserfolgen gehörte vor allem, beim Schummeln erwischt zu werden. Dann setzte es regelmäßig Strafsanktionen, denn Schummeln bedeutete primär Versuch einer arglistigen Täuschung der Lehrperson, eine Art „Feigheit vor dem Feind“ wie ein Sich-nicht-Stellen in einem Duell; immerhin war bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts Schulunterricht militärisch organisiert, nachzulesen bei Katharina Rutschky, „Schwarze Pädagogik“. Leistung aus eigener Kraft vorzutäuschen, war unehrenhaft – allerdings gab es auch immer welche, die nur aus Wagemut oder Sportsgeist schummelten. Die waren dann meist die heimlichen Helden des „Untergrundes“.

Hinter der Negativbewertung des Wortes „Schummeln“ steckt die Moral vom „einsamen Glückesschmied“, und die zählt laut Claude Steiner („Macht ohne Ausbeutung“, Jungfermann Verlag), einem in Fachkreisen hochangesehenen franko-kanadischen Transaktionsanalytiker, zu den „Drei Mythen der Macht“. Die anderen beiden sind: „Der Mensch ist grundsätzlich machtlos“ und „Alle Menschen haben die gleiche Macht“.

Der Umgang mit Macht gehört zum „geheimen Lehrplan“ im schulischen Organisationsaufbau. Angeblich haben zwar alle gleiche Chancen, und Sympathien und Antipathien kommen nicht zum Tragen … aber da nur wenige Lehrkräfte durch das Fegefeuer einer machtkritischen Selbsterfahrung gegangen sind – denn das wäre ja bereits sehr nahe einer Psychotherapie – und Supervision noch immer nicht berufsbegleitend vorgeschrieben (und bezahlt) wird, sind vielen ihre Vor-Urteile und Nach-Sichten kaum bewusst. Zu den Vor-Urteilen gehören auch die aus Tradition übernommenen Urteile – z. B. die über die Spielregeln von Über- und Unterordnung.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, wundert es nicht, dass der Vorschlag, Schüler sollten genormte (5×5 cm große) „Merk“- und bitte nicht „Schummel“zettel mit individuellen Gedächtnisstützen bei Prüfungen verwenden dürfen, sofort polarisiert: heißt die schulische Spielregel, „Du sollst Deine Leistung ALLEIN aus eingespeichertem Wissen und Können erbringen“, wird genau diese Fähigkeit, nämlich elitäre Einsamkeit mitunterrichtet. Lautet das Gebot hingegen „Du sollst Dir überlegen, welche Hilfen Du brauchen könntest“, wird Kreativität gefördert. In beiden Fällen muss man sich ja vorbereiten – nur liegt im ersten Fall der Schwerpunkt auf vorgegebener Fremdbestimmung, im zweiten hingegen wird die Eigenverantwortung in einem weiteren Sinn angeregt.

Dass Spielregeln kritisiert, verändert, möglicherweise sogar verbessert werden können, gehört zur Freiheit eines „offenen“ sozialen Systems. „Geschlossene“ Systeme hingegen neigen dazu, sich jeder Kontrolle und Veränderung zu entziehen: es soll keiner hineinschauen und keiner hinaus. Das bedeutet im Klartext auch: die vorhandene Machtstruktur soll nicht verändert werden.

Daran musste ich auch denken, als ich las, in dem Reformpapier des Wiener Stadtschulrats wäre auch vorgesehen, dass Schüler/innen ihre Schularbeiten einen Tag nachher selbst korrigieren sollten. Mir hat nämlich vor wenigen Tagen eine junge Mutter erzählt, ihr neunjähriger Sohn habe auf ihre Anregung, er möge doch seine Hausaufgaben vor Abgabe noch einmal auf Fehler durchsehen, „urcool“ geantwortet: „Ich mach doch nicht die Arbeit von der Lehrerin!“