Ferndiagnosen

"Perners Notizen" | Wiener Zeitung

„Perners Notizen“ in der
„Wiener Zeitung“

Es war ein österreichischer Kulturminister, der seinerzeit den Rückzug Thomas Bernhards aus der Welt der „Reichen und Schönen“ samt Adabeis und sonstigen Hofberichterstattern mit öffentlichen Überlegungen über dessen Geisteszustand verknüpfte. Er gab damit – zumindest hierzulande – vielen Politkommentatoren den Startschuss zum „wilden analysieren“.

Mit „wilder Psychoanalyse“ bezeichnete nämlich bereits Sigmund Freud die „brüske Mitteilung“ von „erratenen Geheimnissen“ durch all diejenigen, die „einige Ergebnisse der Psychoanalyse kennen“, aber nicht über die erforderliche theoretische und technische Ausbildung verfügen, und klassifizierte sie als „technisch verwerflich“. Er warnte: „… die Mitteilung des Unbewussten an den Kranken hat regelmäßig die Folge, dass der Konflikt in ihm verschärft wird und die Beschwerden sich steigern …“

Verhalten zu pathologisieren – es als „krank“ zu bezeichnen – ist eine beliebte Reaktion zur Erklärung unverständlichen Benehmens. Dahinter steckt die Abwehr von Gefühlen der Verwirrtheit, vielleicht auch der Ohnmacht, die nächste Zukunft voraus kalkulieren zu können: man attackiert den anderen beispielsweise mit dem Vorwurf des Verlustes geistiger Gesundheit, um ihn – oder sie – dazu zu bringen, sich wieder „normal“ sprich kontrollierbar zu verhalten.

Als „Norm“ für diese „Normalität“ nimmt man dabei sich selbst, klarerweise – und als Psychiater oder Psychotherapeut darf man das ja auch, mit gesellschaftlicher Erlaubnis. Dazu hat man ja die „Lizenz zum Diagnostizieren“ – eine Form von „qualifizierter Wahrnehmung“, so wie ja auch Polizisten eine ähnliche Qualifikation gestattet wird, wenn sie etwa die Geschwindigkeit eines Kraftfahrzeugs abschätzen. Allerdings: wo der Polizist sich auch von sich aus spontan „in Dienst stellen“ darf, wenn er eine Situation als Anlass zum amtlichen Einschreiten „diagnostiziert“, darf das ein sogenannter „Psycho“ noch lange nicht: um z. B. psychotherapeutische Dienste zu erbringen, muss ein eindeutiger Vertragsabschluss vorliegen – es bedarf also einer konkreten Nachfrage nach psychotherapeutischer Intervention und einer Präzisierung des speziellen Veränderungswunsches. Ein Gedankensprung: 1968, als der Prager Frühling ein jähes Ende fand, erschien in einer tschechischen Zeitung ein Comicstrip, in dem ein lüsterner Jüngling einem drallen Mädchen nachläuft – dieses schreit „Hilfe!“ – und schon stehen ein paar russische Soldaten da: „Wir sind schon da!“ Also: sooo darf Psychotherapie nicht angediehen werden …

Wenn mir Klient/innen klagen, ihre Bezugspersonen bezeichneten sie als „hysterisch“, dann empfehle ich ihnen gerne – mit einem Augenzwinkern –, sie mögen diese „Sozialsadisten“ (so die Bezeichnung verbal gewalttätiger Menschen von Benard / Schlaffer in der Studie „Gewalt in der Familie“ / 1991) doch aufklären, dass sie als Nichtärzte, Nichtpsychotherapeuten mit derartigen „Etikettierungen“ das Ärzte- bzw. Psychotherapiegesetz verletzen … Hysterie ist nämlich, grob formuliert, eine organische Symptombildung auf Grund unbewusster seelischer Ursachen – nicht aber eine möglicherweise überlaute Protesthaltung.

Heute wird kritisiert, wer statt „Sager“ zu verteilen, „schweigt“, statt tv-gerechten Inszenierungen (Taferln!) „fade“ Sachinformation bietet, oder statt permanentem Politpingpong ausnahmsweise einmal menschlich betroffen reagiert. Aber wer weiß (ohne echte Analyse von Mensch zu Mensch): auch so etwas kann nur Taktik oder der neueste Politgag sein …