Rotraud A. Perner

Eine kleine Weihnachtspredigt für 2015

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns
und wir sahen seine Herrlichkeit,
eine Herrlichkeit als der eingeborene Sohn vom Vater,
voller Gnade und Wahrheit.
Johannes 1, 14

Fleischwerdung – „Inkarnation“: Das bedeutet, dass sich ein Geist, ein „Spirit“, eine Seele materialisiert.
Zur Weihnacht besinnen sich Christen auf die Inkarnation des göttlichen Geistes in Jesus von Nazareth, dem „eingeborenen“ Sohn – dem unschuldigen Kind, das Gottes Liebe in sich hat.

Manche halten es dazu für nötig, darauf hinzuweisen, dass dieser Festtag in die Zeit der traditionellen keltischen Wintersonnwendfeiern fällt. Damit wird versucht, den in vielen Kulturen der Welt zu findenden Mythos von der Geburt des Sonnenkindes, das mit seinem Aufwachsen die Dunkelheit verschwinden lässt, ins Bewusstsein zu rufen. Bei den alten Römern hieß diese Gottesgestalt „sol invictus“ – die unbesiegbare Sonne und war männlich (während luna, der Mond, weiblich gedacht wurde). Daraus leiten manche Kritiker die Behauptung ab, dass die Weih-Nacht, die geweihte Nacht in der Gott geboren wird, keine „Erfindung“ des Christentums sei, sondern eine Art Plagiat aus älteren Kulturen.

Auf die Idee, dass es ein Einziges ist, das nur in unterschiedlichen Bildern und Worten angesprochen wird, kommen die wenigsten – immerhin werden wir alle noch immer auf Vergleich, Bewertung und Rangordnungsdenken hin erzogen. Genau deswegen tun wir uns so schwer, aufs Siegen zu verzichten und demütig zu sein – was ja vor allem bedeutet, auf Hochmut zu verzichten.

Lässt man aber das kleinliche Konkurrenzdenken, welche Religion, welcher Gott, welche Gläubigen das „Richtige“ repräsentiere, beiseite und fühlt man sich in den tiefen Sinn ein, der in diesem Mahn-Bild drinnen steckt, erkennt man die Hoffnung auf Neubeginn – einen Neubeginn in der Natur und auch in uns Menschen.

Von Herman Hesse stammt die Gedichtzeile, dass jedem Anfang ein Zauber inne wohne. Den gilt es zu bewahren.
Jede Geburt eines Kindes macht diesen Zauber erfahrbar – wenn man bereit ist, ihn wahrzunehmen, vor allem aber auch, ihn zu behüten.

Neugeborene Kinder sind noch ganz weich und biegsam: So sind auch ihre Fontanellen am Schädel noch nicht verknorpelt und können im Geburtsvorgang ein wenig übereinander geschoben werden und damit den Durchgang durch die „Mutterpforte“ erleichtern; die kleinen Fontanellen verknöchern im Verlauf der ersten zwei Lebensmonate, die großen oft sogar erst mit zwei Jahren. Zu diesem Zeitpunkt läuft das Kleinkind schon – und meist wieselschnell weg von der Mutter – und spricht und spricht oft „dagegen“ und leistet Widerstand. Aber das halten selbstwertschwache Menschen nicht gut aus, deswegen versuchen sie diesen Widerstand zu „brechen“.

Wir könnten also auch sagen: Die Fontanellen halten das „Scheitelchakra“ (wie diese Stelle in den östlichen Gesundheitslehren benannt wird), die Stelle am Oberkopf offen, an denen Mönche früher – heißt es bei Matthäus 18, 3. – die Tonsur, eine kreisrund ausrasierte Markierung, trugen – die Eintrittspforte für den Heiligen Geist.

Wenn der Heilige Geist eintritt, wird auch das Herz weich und offen: Man wird von Liebe ergriffen.

Auch das halten viele Menschen nicht aus: Wenn sich das Herz erweicht und weit öffnet, kommt Rührung auf, alte ungeweinte Tränen steigen auf und könnten die Seele reinigen – aber in einer kalten Welt voll von Siegeswut und Rivalität gilt das als Schwäche, die verspottet bzw. abtrainiert werden muss.

Aber auch Liebe halten viele Menschen nicht aus: Sie könnten ja von ihr ergriffen, überflutet werden, die Grenzen gegenüber dem oder der Anderen könnten sich auflösen, man könnte „einig“ werden. Liebe – echte Liebe, nicht Verliebtheit, Abhängigkeit oder Begehren – strömt aus dem Herzen und erfreut sich der Schöpfung, und zu der gehören die Menschen dazu.

Egal, wie sehr jemand abweisend ist, Kontakt verweigert oder unentwegt einfordert, „nervt“ oder langweilt: Wenn man vermeidet, sein Herz gegen ihn oder sie zu verhärten, sondern sich statt dessen bemüht, das Herz weit zu atmen, kann man höchstens die eigenen Verletzungen spüren, die man durch die andere Person erlitten hat – und man kann den Schmerz mit einem tiefen Atemzug loslassen und braucht sich nicht mit Härte und Unerbittlichkeit abzugrenzen.

Wir sollen werden wie die Kinder, heißt es beim Evangelisten Matthäus (MT 18,3). Das heißt auch weich, offen, liebend.

Liebend auch wenn man nicht wiedergeliebt wird, wenn man vielleicht sogar weg gestoßen wird, weil andere sich von Liebe bedroht fühlen – weil sie dann auch weich werden könnten, und offen, und weil Offenheit vieles nicht nur herein sondern auch hinaus lässt, Einsamkeitsgefühle etwa.

Jesus, der Christus, ist weich und offen und liebend geblieben – als Kind wie auch im Sterben. Er hat der Versuchung des Hochmuts und der Überheblichkeit widerstanden wie auch der dahinter lauernden Angst. Deswegen ist er der Heiland – der Heiler der Verhärtung und der damit untrennbar verbundenen Lieblosigkeit.

Wenn wir im Advent schrittweise die Erwartung des Heilands verstärken, könnten wir auch schrittweise die Angst loslassen, schrittweise unser Herz der gelebten – nicht nur behaupteten – Liebe öffnen und selbst zu Heilenden werden: Die Verletzungen heilen, die wir im Laufe des vergangenen Jahres zugefügt haben und die wir nicht wahrnehmen wollten oder konnten, weil wir zu sehr „zu“ waren.

Wir sollen wieder werden wie die Kinder.

Das heißt auch, den kindlichen, unschuldigen Geist zu leben – einen Geist, der sich nicht durch Schuldzuweisungen verunreinigen lässt, weil er Begriffe wie Schuld, Gemeinheit, Verbrechen und Angst noch nicht kennt – und wenn er sie kennen lernt, sich deswegen nicht davon „anstecken“ lässt.