„Die Kraft und die Herrlichkeit“

Gastkommentare in
„Die Presse“

Drei Jahre teilbedingter Strafe wegen sexuellen Missbrauchs und Unzucht mit Unmündigen – und der verurteilte Ordenspriester darf nicht mehr in Gemeinschaft mit seinen Mitbrüdern leben. Das ist der falsche Weg, meint die Psychoanalytikerin und Juristin Rotraud A. Perner, denn gerade wenn ein Mensch eine Krise zu bestehen hat, braucht er Beistand.

Er wolle sich seine Sexualität genauer ansehen, sagte der Priester im Erstgespräch. Er lebe jetzt zwar offen mit einer Frau zusammen, aber vorher schon habe er mit einem Gemeindemitglied jahrelang ein Verhältnis gehabt – und sei das nicht eigentlich ein Missbrauch? Nur: seine derzeitige Freundin wolle eigentlich nicht, dass er zu mir komme, sie möge mich nicht… „Du darfst keine anderen Göttinnen haben neben mir?“ habe ich nachgehakt, und: Brauche er eine „strenge Mutter“, die ihn abhalte, sich mit sich selbst zu beschäftigen? Oder sei er „Mann“ genug, den Gang in die eigene Seelentiefe zu wagen – egal, welche Monster dort noch auftauchen. Ja, er habe ohnedies noch ein Problem, kam sofort verschämt die Replik, er fühle sich so zu den Zehnjährigen hingezogen …

Aus psychoanalytischer Sicht ist der Mensch von Grund auf bisexuell – fähig, jeden Menschen zu lieben, egal wessen Geschlechts er oder sie ist, und, möchte ich zufügen, egal, welchen Alters, egal, welchen Kulturkreises, egal, auf welche Weise. Liebe – ganzheitliche Zuwendung mit Geist, Seele und Körper – fragt nicht nach dem wer und wie, aber sie ist behutsam, scheu, „keusch“. Sie vergewaltigt nicht, manipuliert nicht, verzichtet auf Machtspiele und lässt Ohnmacht ertragen. Liebe ist nicht gleich Verliebtheit, Begehren, Triebhaftigkeit, Abhängigkeit, Obsession.

Es hängt von der jeweiligen psychosexuellen Entwicklung ab, was man sich – und anderen – erlaubt, und was man scheut, abwehrt, wovor man sich ekelt oder ängstigt: wir werden zu bestimmten Abwehrformen erzogen. Wir selbst sind es, die mehr oder weniger unreflektiert unsere eigenen „Mythen“ von richtig oder falsch basteln. (Mit Mythen werden in der systemischen Sichtweise unsere Glaubenssätze bezeichnet, die unwidersprochen zur Erklärung der Welt oder zur Rechtfertigung unseres eigenen Verhaltens dienen.) Mythen spenden Halt – Halt, damit wir nicht „umfallen“, Halt aber auch als Grenze für unsere Zurück“halt“ung, um nicht anzuecken und Sanktionen auf uns zu ziehen.

Sexualmythologie

Zu den klassischen sexuellen Mythen gehört beispielsweise, dass man vor oder nach einem bestimmten Alter asexuell sein kann oder muss oder soll. Ein anderer dieser Sexualmythen lautet, Männer seien so triebstark, dass sie sich nicht zurückhalten können und ihre Triebkraft Gewalt über sie hat. Dieser Mythos wird vor allem von Strafverteidigern verbreitet, entspricht aber nicht den Tatsachen, denn Studien mit Sexualstraftätern (z. B. von Ray Wyre) haben zu tage gebracht, dass all diese Übergriffe oder massiveren Gewalttaten beabsichtigt und wohlgeplant waren. Grooming – „zur Braut herrichten“, von „groom“, der Bräutigam – heißt dieser Prozess in der Fachsprache. Wieder ein anderer Mythos behauptet, dass Frauen unter keinerlei Triebdruck stehen und überhaupt die reinsten Engel auf Erden wären. Genauso unhaltbar ist auch die Ansicht, dass man(n) krank würde, wenn man(n) sich nicht regelmäßig sexuell „entlade“. Ein weiterer – pädagogischer – Mythos suggeriert, Verschweigen oder Verbieten reiche aus, unerwünschtes Verhalten zu unterbinden; und derzeit entwickelt sich ein neuer Mythos, der besagt, wer sexuelle Übergriffe setze, sei immer selbst einmal Opfer derartiger Übergriffe geworden und daher seien derartige Fehlhandlungen entschuldbar.

Identifikationen

Wenn wir mit sexuellem Fehlverhalten konfrontiert sind, haben wir mehrere Reaktionsmöglichkeiten: wir können uns emotionalisieren. Dabei kann unterschieden werden, ob man sich mit dem Opfer identifiziert und mit dem „inneren Kind“ reagiert, das sich vielleicht erinnert, selbst Opfer sexueller Übergriffe – oder anderer Miss-Handlungen – geworden zu sein und als Erwachsener endlich die damals nicht mögliche Wut herauslassen kann, oder ob man die Angst der „Kleinen“ vor dem Machtmissbrauch der „Großen“ in sich spürt und in Angst erstarrt. Wir können uns aber auch mit dem Täter identifizieren – beispielsweise weil wir in einer Gruppierung eingebettet sind, in der es sexuelle Übergriffe nicht geben darf und sie daher verleugnet werden müssen, man also allein und in Opposition stehen würde mit einem Protest gegen Gewalt, daher wechselt man aus Überlebenstaktik lieber an die Seite derer, die die Gewalt ausüben. Oder man kann sich „leidenschaftslos“ mit dem Gesetzgeber identifizieren und nach Recht und Ordnung, vor allem aber auch Strafe schreien, oder umgekehrt kann man sich aus mit dem gewaltverzichtenden Jesus identifizieren, „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet!“ denken und verzeihen… oder man kann sich in bester Doppelmoral verbal auf- und klandestin erregen und immer und immer wieder„geistige Bilder“ vorbeiziehen lassen …

Es gibt aber auch noch das ganz große Tabuthema der Grauzone sexueller Experimentierfreudigkeit Heranwachsender, die oft aus Neugier, oft aber auch aus echter Zuneigung in Beziehungsangebote einsteigen, die von Eltern oder anderen Moralaposteln, oft aber auch im eigenen biographischen Rückblick verdammt und strafrechtlich geahndet werden. Ich nenne das die Verweigerung von Trauerarbeit, um sich in der eigenen Hilflosigkeit nicht spüren und bemitleiden zu müssen. Kindern wird ja meist schon von klein auf Selbstmitleid verboten – aber wer soll denn fühlen, wie es uns wirklich geht, wenn nicht wir selbst?

All diese üblichen Reaktionsweisen sind nicht geeignet, das Problem der sozial unerwünschten sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden zu beseitigen. Besonders unerwünscht und daher strafrechtlich besonders hervorgehoben sind sexuelle Beziehungen zwischen Autoritätspersonen und den ihrer Obhut anvertrauten Personen. Dazu zählen nicht nur die Angehörigen von Gesundheits-, Bildungs- und Sozialberufen, sondern vor allem auch die geweihten „Seelsorger“ – Stellvertreter Gottes auf Erden, Pfleger des Gewissens, Förderer der Erkenntnis von menschlicher Unzulänglichkeit und Sündhaftigkeit und Wegbereiter der Heimkehr zur Einheit in Gott – wie auch immer dieser Auftrag interpretiert werden mag.

Es sind wir, die Gesellschaft, die sich „Priester hält“, damit sie uns, die wir im Alltagstrott oder heutzutage besser gesagt, in der Alltagshektik dafür sorgen, dass wir schnell mit Gottes Liebe versorgt oder in den Zustand geführt werden, dass wir einen Hauch von Liebe – von bedingungsloser Annahme, egal wie sündig wir sind – erleben können. Wir erwarten, dass Priester schon wissen, wie sie das zu tun hätten und „vertrauen“ – so wie wir von Eltern nur selbst-lose Liebe erwarten und ihre Schattenanteile nicht wahrnehmen bzw. wahrhaben wollen. Und Priester, die, wie Eugen Drewermann so treffend nachgewiesen hat, sich an einem vorgegebenen extrem hohen Ideal orientieren sollen, übernehmen diese Erwartungen in jungen Jahren unkritisch, unzulänglich unvorbereitet und – weitgehend alleingelassen, wenn sie in konkrete Konfliktsituationen kommen.

Denn Verbote allein nützen nichts – kein Mensch lernt aus Verboten, wie er sich korrekt verhalten soll. Wir lernen an Vorbildern, die uns relevante Informationen geben bzw. vormachen, wie etwas geht, und wir lernen aus Übung. Das Lob, wenn wir etwas gut zustande gebracht haben, können wir uns selbst spenden. Auch Gott „sah, dass es gut war“.

Liebesschwülstige Atmosphäre

Katholische Priester sind mehr noch als etwa ihre säkularen „Schattengeschwister“ Psychotherapeut/innen für sexuelles Fehlverhalten anfällig. Nicht nur, weil sie vermeinen, nur durch Autosuggestionen der Sinnenlust entgehen zu können.
Unabhängig voneinander habe ich im Oktober des Vorjahres von zwei hochrangigen Kirchenfunktionären die selbe Formulierung gehört: „Mir gefällt ja auch oft eine schöne Frau – aber dann sage ich mir: erfreue dich an ihrem Anblick – du musst sie nicht besitzen.“ Aus der gleichlautenden Wortwahl schließe ich, dass sie eingelernt – und wohl memoriert – ist. Sie mag als „Mantra“ zur Selbststeuerung hinreichen – aber sie hat mit Liebe nichts zu tun, sondern nur mit der Augenblicksgier, die tagtäglich medial suggeriert wird: wenn James Bond ein hübsches „Girl“ erblickt, in der nächsten Szene mit ihr im Bett keucht und in sie in der nächsten Szene umlegt, weil sie eine feindliche Agentin ist, wird klar, weshalb das Partnerschaftsverhalten so vieler Menschen diesem Verschleiß an „human capital“ gleicht.
Mit sexueller Erregung so umzugehen, dass sie „das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit“ in einem selbst – ohne Abhängigkeit von einem anderen – erschließt ist eine Kunst – die Wahrscheinlichkeit, dass man von selbst draufkommt, wie sie zu praktizieren ist, ist zumindest in unserem Kulturkreis gering. Auch Psychotherapeut/innen lernen sie nicht in ihren Ausbildungen, dabei könnten sie dies ohne das Verbot der „Unkeuschheit in Gedanken, Worten, Werken“ erforschen und lehren (vgl. Rotraud A. Perner, “Sein wie Gott – Die Sehnsucht nach der Sexualkraft des Heilers”, erscheint Juli 2002 bei Kösel München).

Jede gelungene sexuelle Beziehung baut sich in Phasen (vgl. Rotraud A. Perner, “Ungeduld des Leibes – Die Zeitrhythmen der Liebe”, Orac 1994) auf: zuerst braucht es überhaupt Kontakt (interessierte oberflächliche Reaktion aufeinander), damit sodann eine Beziehung (die andere Person erfahren – „erkennen“ – wollen) entstehen kann: Eine solche kann sich zu Intimität (größtmögliche seelische Nähe mit entsprechender Behutsamkeit und Empathie) vertiefen – und wenn man dann wirklich ein Paar bilden will, kann Vereinigung (darunter verstehe ich den bewussten Austausch von Körpersäften) folgen.

Grenzziehungen

Jede Phase ist in sich abschließbar – es wäre wieder ein Mythos, zu glauben, es müsste auf jede Phase die nächste folgen. Und dort liegt die große Gefahr in den Berufen, in denen eben intensive Intimität – Herzöffnung – angestrebt wird: dass die Intimität der Begegnung so starke sexuelle Körperreaktionen hervorruft, für die nur eine Reaktionsmöglichkeit denkbar ist, nämlich die Durchführung irgendeiner der Handlungen, die im geistigen Repertoire eingespeichert sind.

Dieser Schatz geistiger Vor-Bilder kann aus eigenem Erleben in Kindheit und Jugend, aus sogenannter befreiender Sexualerziehung oder, wie meist, aus dem medialen Kommerzangebot herrühren.

Psychische Intimität mit gleichzeitiger physischer und sozialer, daher auch sexueller Abstinenz zu vereinen, lernt man nicht aus kognitiven Appellen – schon gar nicht, wenn die beruflichen Lehrmeister selbst „Wasser predigen und Wein trinken“. Auch die für Psychotherapeut/innen verpflichtende Selbsterfahrung und Supervision gibt keine Garantie, dass erkannte sexuelle – aktive wie passive – Beglückungsphantasien ausreichen, sie im Bereich der Phantasien zu belassen. Man braucht dazu auch die entsprechenden ganzheitlichen – Körper, Seele und Geist umfassenden – Techniken. Und die entstammen anderen Kulturkreisen als unseren, sind daher weitgehend unbekannt.

Leider zielt die traditionelle Ausbildung von katholischen Priestern, wie treffend bei Peter Paul Kaspar (vgl. Peter Paul Kaspar, „Knabenseminar“, Otto Müller Verlag 1997) nachzulesen, nur darauf ab, die Adepten im Zustand präpubertärer Knaben zu halten – einen Zustand, in dem sich „männlich“ und „weiblich“ noch nicht im Sinne reifer Geschlechtlichkeit differenziert. Unterstützung findet diese Strategie noch in der Idealisierung des „göttlichen Kindes“; eine dazu „passende“ Frau darf logischerweise nur als Madonna gedacht werden. Auch die Schaffung sexueller Abhängigkeit von Männern dient in diesem Sinne der Verhinderung des Zugangs zum „Weiblichen“ – in seiner „dunklen“, leider aber auch in seiner „lichten“ Gestalt. Bestenfalls wird dem künftigen Gottesdiener eine kurze Zeit des „Austobens“ vor der Primiz gestattet, nicht aber, seinen individuellen Weg zur Ganzheit – zur Vereinigung von „Männlich und Weiblich“, egal ob in sich selbst oder mit einer – geistig, seelisch und körperlich – „gleichen“ Partnerperson zu fördern. Damit wird aber auch die „wesen“tliche Erfahrung Gottes ver“bild“et – denn „Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“

Pädophilie oder Unreife?

Wenn man sich die Mühe macht, Menschen, die sexuelle Handlungen an oder mit Kindern durchgeführt haben, zu differenzieren, erkennt man solche, die im Wiederholungszwang anderen antun, was man ihnen angetan hat (mit der Sonderform sadistischer Ausprägung, die oft als strenge Erziehung verteidigt wird), sogenannte „Unreife“, die insgeheim im eigenen Erleben hängen geblieben sind und sich über pubertäre Formen wie Gruppenmasturbation nicht weiterentwickelt haben, Unaufgeklärte, die unkritisch mediale Vor-Bilder nachahmen, und – Einsame, die sich an niemand anderen herantrauen als an Kinder, von denen sie keine Abwehr erwarten.

Kleriker sind von allen Elternersatzberufen diejenigen, die am wenigsten Wissen vermittelt bekommen, wie man seine Sexualität integriert – integer hält. Jemand auszustoßen, statt Wege zur Nachreifung zu suchen (und damit meine ich nicht die Verbannung auf die psychotherapeutische Couch), halte ich für den falschen Weg.