Dr. Rotraud A. Perner

Rotraud A. Perner

Von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer psychosexuellen Befreiung

Für den Fluß sind es die Brücken, die fließen.
Chinesisches Sprichwort

 

Ende August 1968 – der „Prager Frühling“ war soeben durch die Invasion der Sowjettruppen gewaltsam beendet worden – gab es einen tschechischen Cartoon, auf dessen erstem Bild ein Mann zu sehen war, der mit ausgestreckten Grapschhänden einer drallen „Dirn“ nachrannte, die sichtlich verzweifelt „Hilfe!“ schrie. Auf dem zweiten, fast unveränderten  Bild war ein Dritter dazugekommen: ein russischer Soldat in voller Kampfausrüstung mit der Aussage: „Ich bin schon da!“

So kann Freiheit auch inszeniert werden: man registriert – oder phantasiert – irgendetwas  Behinderndes, Einschränkendes, Unterdrückendes und bezeichnet dessen Beseitigung als Zustand der Freiheit. Man definiert sich damit als Besserwisser – egal ob man andere mit dem eigenen Freiheitsverständnis zwangsbeglückt oder sich gegen derartige Beglückungsterroristen zur Wehr setzt – und versucht so jenem Gefühl zu entkommen, das wir alle aus unseren ersten Lebensmonaten kennen: es geschieht etwas, das wir nicht wollen, das uns Unbehagen verursacht, was wir los haben wollen – frei davon werden – und   das wir mangels Sprache noch nicht verbalisieren können; unser Reaktionsrepertoire pendelt daher noch zwischen lautloser Erstarrung bis zu lautstarkem Protestgeschrei und führt oft zur Etikettierungen wie  „störrisch“ oder auch „schlimm“ und neuerlichen Befreiungsversuchen. Von beiden Seiten. Manchmal bis zum Kindesmord.

Je mehr Sprachgestalten wir im Laufe unseres Erwachsenwerdens kennen lernen, desto größer könnte unser Vorrat an alternativen Verhaltensweisen werden – vorausgesetzt wir können uns von unseren Vor-Urteilen befreien: beispielsweise als schlimm, sündhaft, krank oder kriminell zu bezeichnen, was uns stört, und damit zu legitimieren, dass wir uns auf mehr oder weniger gewalttätige Weise von unseren aggressiven Impulsen befreien: der Störenfried muß weg – der äußere natürlich. Den inneren zu beherrschen, würde ja Selbsterziehung erfordern…

Jedes Urteil beruht auf einer Wahrnehmungsgestalt, die wiederum auf einem Sinneseindruck und einer primär emotionalen, sekundär operativen Bewertung basiert. Oder konkret auf Freiheit hin präzisiert: ob wir uns als unfrei, vorübergehend befreit oder grundsätzlich frei erleben, hängt mit unserer Verfügungsfreiheit über unsere Bewertungen zusammen, und diese wiederum von dem Entwicklungsstand unseres leibseelischgeistigen Reifungsprozesses.

Geburt – die erste Befreiung?

Ist also schon die Geburt eine Befreiung – oder eine Verstoßung? Oder nur eine spannende Herausforderung für alle Beteiligten – Ausgang und Bewertung ungewiß? Und bewerten wir nicht immer „in Beziehung“ zu Anderen – die uns tadeln oder loben, unangenehme oder angenehme Gefühle verursachen – und noch dazu kaum im „Hier und Jetzt“, sondern glückselig oder verdrossen auf Vergangenes oder Zukünftiges ausgerichtet?

Ein Säugling, der noch nicht entwickelt genug ist, seine Muskulatur zu beherrschen – also zielgerichtet (daher in die Zukunft schauend) zu bewegen –, mag  einen mehr oder weniger angenehmen „Gefühlsentwurf“ von Freiheit besitzen – oder (Vergangenem nachsehnend) von Abtrennung, Haltlosigkeit, Verlassenheit. Bei Josef Hader lautet das dann in einem seiner bissigen Lieder so: „… sich nicht waschen müssen, im Bett liegen bleiben, auf den Kopfpolster spucken und ins Bett scheißen: das ist Freiheit. Oder Altersheim. Oder Freiheit. Oder Altersheim. Oder Freiheit…“

Nach der psychoanalytischen Entwicklungslehre datieren die ersten Selbstwahrnehmungen im Erkennen und Unterscheiden von Fremden („Nicht-Ich“) und Vertrauten in die Zeit rund um den achten Lebensmonat: langsam beginnt das Kind sich nicht mehr ganz nah und eins mit seiner Mutter oder der Person, die „muttert“, zu fühlen, reagiert oft mir Angst auf das Neue und verweigert „Nähe“: seine Aktivitäten bekommen damit eine andere Qualität – und die der auf das Kleine reagierenden Bezugspersonen auch. Es bilden sich neue Neurosignaturen – neue Verdrahtungen im Gehirn.

Im Zusammenwirken von entweder wiederholten sanften oder einmaligen intensiven Reizen auf mehreren gleichzeitigen Sinnesebenen werden im Gehirn die chemischen Botenstoffe „abgefeuert“, die die neuronalen Netze knüpfen, die wir rückblickend als Inhalt unserer Wahrnehmungen, Erinnerungen oder Zukunftspläne definieren. Wenn tagtäglich das selbe Erscheinungsbild auftaucht, weitgehend gleich aussieht, klingt, riecht, schmeckt und sich als „Mama“ oder sonst wie bezeichnet, entsteht ein „Mama-Neuron“ – auch wenn Mama plötzlich die Haare anders gefärbt hat oder ein anderes Parfum benutzt. Und wenn Mama lieb ist und gute Gefühle auslöst, entsteht „Bindung“. Und nicht nur die: es entsteht auch Bindungsfähigkeit – und die kann auswuchern bis hin zur manipulierten Unterwerfung.

Soziale Abhängigkeit

Im ersten Halbjahr des Lebens sind Menschenjunge zu ihrem Gedeihen auf physischen Halt durch eine Pflegeperson angewiesen, aber auch auf Herzenswärme. Das wissen wir spätestens seit den Studien von René Spitz: ohne „Streicheleinheiten“ gingen die von ihm beobachteten Waisenkinder zugrunde – auch wenn sie noch so sauber gehalten und gut genährt waren. Der Beginn unseres Lebens außerhalb des Mutterleibs ist ein ungeschützter (auch wenn die Zeit im Mutterleib auch nicht immer eine beschützte ist, ist zumindest so lange man lebt, eine Schutz gebende Umhüllung erfahrbar!) – da brauchen wir unbedingt die schützende Nähe. Mit fortschreitendem Wachstum braucht das Menschlein immer mehr Raum, kann Grenzen überwinden – die des Raumes wie die der Erfahrung – und gewinnt so immer mehr Über-Blick. Erlebt Alternative. Kann und muß wählen.

Wird aus dem „ungerichtet“ zappelnden und greinenden Baby ein Kleinkind, das seine Motilität bewußt steuern kann, beginnt eine neue Form – eine bewußtere Form – von Wahlfreiheit: aufrichten oder am Boden bleiben, nach links oder rechts schwenken, zupacken oder loslassen (wobei letzteres das Schwerere ist!). Das Kind läuft weg (wenn man es läßt!), braucht aber die verläßlich wartende Bezugsperson, zu der es immer wieder zurückkehren kann – in „seiner Zeit“: dann, wenn es das will. Darf es keinen eigenen Willen trainieren, wird es also „brav“ istgleich depressiv angepaßt, fehlt ihm später die Widerstandskraft wie die Standfestigkeit. Oder es „trotzt“ – gibt also seinen Eigensinn nicht gleich auf – und wird voraussichtlich bestraft, nämlich dafür, dass es kraftvoll genug ist, Widerstand auszuhalten.

Leider geben viele ängstliche Erziehungspersonen in dieser Zeit ihre eigenen Ängste an das Kleinkind weiter, erklären nicht, geben nicht Hoffnung und Zuversicht, sondern binden es mit allerlei Drohungen oder blanker Angstmache an sich. In diesem Lebensalter prägt sich oft schon massiv ein, wie sehr der spätere Erwachsene emotionale Abhängigkeit suchen und als Idealfall bezeichnen wird – oder eben nicht. Der Psychoanalytiker Fritz Riemann hat in seinem Grundsatzwerk „Grundformen der Angst“ zwei Charaktere beschrieben: den „schizoiden“, der gut allein sein kann und Autonomie anstrebt (und dem Nähe oft Angst macht), und den „depressiven“ Charakter, der leidet, wenn niemand da ist, der sich um ihn kümmert oder um der er/ sie sich kümmern kann (und der Angst vor dem Alleinsein hat) und daher oft auf Selbstbestimmung verzichtet, nur um Teil eines Paares oder einer Gruppe sein zu dürfen.

Für den „Schizoiden“ liegt Freiheit in der Distanz zu allem, was zu nahe kommt, einengt: ein obsessiver Liebespartner ebenso wie ein vereinnahmender Vorgesetzter, autoritäre Gesellschaftsstrukturen oder repressive Gesetze. Menschen mit dieser Charakterstruktur sind auch selten bereit, Kompromisse einzugehen – lieber allein aber dafür im Bewußtsein, sich nicht in ungerechte, unfaire oder unsinnige Machenschaften verstrickt zu haben, auch wenn das einsame Unverstandensein schmerzt.

Für den „Depressiven“ liegt Freiheit hingegen in der Bewegungsfreiheit, ganz nahe kommen zu können, sich anzuschmiegen oder „hineinzuwürmen“, wie es eine psychotherapeutische Kollegin einmal formulierte. Er wird der Nähe halber sein Eigenleben aufgeben – zumindest das anbieten und versprechen und insgeheim vielleicht die verbotenen Wege beschreiten, immer in der Angst vor dem Ertappt- und Verstoßenwerden. Er ist der geborene Vertraute, Adjutant, aber auch Mitläufer und sogar Verräter: er braucht immer einen anderen, der ihm vermittelt, dass er „jemand“ ist, dafür zahlt er auch mal den Preis seiner Ehre. Das macht ihn auch so gefährlich: in der anonymen „Geborgenheit“ einer Gruppe – sei sie auch noch so selbstzerstörerisch (wie etwa im Suchtmilieu, Alkohol inbegriffen) oder asozial bis kriminell – kann er alle persönliche Verantwortung und Autonomie aufgeben und sich nachher auf Gruppendynamik oder Befehl ausreden… und damit auf dem ersten Stadium der psychosexuellen Entwicklung, der sogenannten „oralen“ Phase, verharren und auf mütterliche Fürsorge hoffen oder „die Gesellschaft“ als Mutterersatz anklagen, dass sie nicht besser mit ihm umgegangen ist.

Ob nun der sogenannte depressive Charakter in seiner seelischen Entwicklung retardiert oder überhaupt fixiert ist (oder genuss- und bindungsfähig), hingegen der schizoid Orientierte reif (oder verbittert im Rückzug von der Gesellschaft), mag Ausgangspunkt psychoanalytischer Diskurse darstellen – ich sehe die beiden Extrempositionen als Begrenzungspole einer Bandbreite, in deren Mitte die Wahlmöglichkeit liegt und, wenn diese Wahl des Verhaltens bewußt und verantwortet getroffen wird, eine Form von Freiheit.

Unbewußt versucht jeder Mensch mit mehr oder weniger Erfolg alles, was Angst auslösen könnte, zu vermeiden: fühlt er / sie  sich schwach, wird er / sie sich mit Stärkeren zu verbünden – wie schon als Säugling eingeübt. Das erklärt auch, wieso Opfer von Gewalt oft ihre Peiniger schonen, decken oder gar verteidigen. Identifikation mit dem Aggressor nennt dies die Psychoanalyse, Stockholm-Syndrom die Viktimologie.

Später wird man Sicherheit spendende Strukturen suchen oder selbst kreieren – zumeist außen, mit zunehmender Selbsterkenntnis innen: von der Behausung bis zum Kraftaufbau, von Spielregeln und Gesetzen bis zum Seelentraining oder meditativer Vervollkommnung der Macht des Geistes. Aus der Abhängigkeit kommt man dennoch nicht heraus: es gibt sie immer, die Anderen, und selbst der gewiefteste Freundschafts- oder Ehevertrag ist keine Garantie gegen den „Feind in meinem Haus“ oder gar „Bett“.

Narzißtische Ängste

Wenn das Kleinkind in seiner psychosexuellen Entwicklung die orale Phase der Gier und Trägheit (erstes Lebensjahr) und damit der Abhängigkeit von Nahrungsspendern und Herumträgern überwunden hat, und auch nicht im Zorn und Geiz der analen Phase (mit etwa zwei bis drei) – Brüskierung anderer durch Eigensinnigkeit und Nicht hergeben Wollen –hängen geblieben ist,  trifft es auf die Herausforderungen der phallisch-narzißtischen Phase (zwischen drei und vier): es experimentiert mit Rollen und Identitäten und heischt nach Anerkennung – es traut sich zu fordern und überfordert oft. Andere sind nur Stichwortbringer dafür, dass das noch unsichere  Selbstwertgefühl durch Applaus gestärkt wird. Wer hier seelisch fixiert ist, wird später vor allem an seinem Image arbeiten und von denjenigen abhängig sein, die ihm schmeicheln; seine / ihre sexuellen „Beziehungen“ werden dann mehr Show sein als Bezugnahme auf jemand anderen. So zeigen die potenziellen Fixierungen und späteren Störungen im Phasenverlauf frappante Ähnlichkeit mit den sieben Hauptsünden der katholischen Kirche und sind ident mit den „großen“ psychiatrischen Diagnosen (wie ich in meinem Buch „Management macht impotent“ aufgezeigt habe: die sogenannten Tugenden der Manager sind eigentlich die so genannten Wurzelsünden!): Sucht, Depression, Borderline-Syndrom, Zwang, narzißtische Störung, Sexsucht, Verfolgungswahn.

Erst in der folgenden sogenannten ödipalen Phase mit all ihren – hoffentlich nicht chronischen! – Konkurrenz-  und Neidgefühlen wird das nunmehr vorschul- oder schulreife Kind erstmalig beziehungsfähig und damit reif für tiefere Gefühle: nicht frei von Schmerz, sondern frei für den bewußt erkannten und benannten Schmerz.

Frei von Ängsten und seelischem Leiden zu werden gilt allerdings vielen als erstrebenswertes Ziel. Wie ein Filmheld – bindungslos, fühllos, skrupellos, erbarmungslos. Unabhängig, mobil, flexibel, verschiebbar von einem Einsatzort zum anderen, unbeeinträchtigt von Gefühlsaufwallungen oder –überflutungen (und wenn mal doch, dann mittels Tranquilizern oder Weckaminen schnell im erwünschten Status), Single sowieso – der   ideale Arbeitssklave im Zeitalter der Globalisierung – und damit schon wieder unfrei.

Aber sagte nicht auch schon Gautama Buddha, „Drum häng‘ dein Herz an Liebes nicht, Geliebtes lassen tut so weh“?

Ich sehe in diesem Streben nach Freisein von Beziehungskummer (oder umgekehrt auch Beziehungsfreuden) ein Form von verkapptem Narzissmus. Das ist pervertiertes Elitestreben – Triumph über andere, „nur“ Menschliche, auf die man herab blicken kann während man selbst in göttliche Höhen empor zu wachsen meint. Überheblichkeit als Selbstschutz, Niedertracht als selbsterhöhende Rache an all denen, die einen nicht (genug) anbeten – Hauptsache ist immer: die Anderen sind unten, nur nicht man selbst. Das sind die tiefenpsychologischen Hintergründe – auch wenn sie als besondere „Einweihung“ vergöttlicht werden wie von Marquis de Sade, wenn er die Überwindung menschlicher Schwächen – vom Ekel bis zum Mitleid – propagiert; sie gehört übrigens auch zum Standardrepertoire satanistischer „Einweihungen“.

Richard Picker beschreibt in seinem Buch „Das Ende vom Lied?“ seinen Lebensweg vom Napola-Schüler zum katholischen Priester und nach seiner Heirat mehrfach graduierten Psychotherapeuten – einen Weg aus glorifizierten elitären Männerbünden hin zu einem Beruf, der „weibliche“ Tugenden verpflichtet ist (oder zumindest sein sollte) .  Hier Mitgefühl und Akzeptanz auch für das „ganz Andere“, dort Grausamkeit und Ausgrenzung – auch für das unerwünschte „ganz Andere“ in einem Selbst.

Utopie der Freiheit

2005 feiert das offizielle Österreich. Unter anderem feiert es auch seine Befreiung vom Naziregime vor 60 Jahren. Und zumindest die Sozialdemokratische Partei nimmt sich die Freiheit heraus,  die eigene Offenheit nach Ende des Zweiten Weltkriegs – auch eine Form von Freiheit – für die Aufnahme von NS-Belasteten zwecks Verstärkung ihrer Wähler- oder auch Mitgliederzahlen zuzugeben: offenbar ist ihre mentale Distanz vielfach groß genug, sich weitgehend angstfrei der eigenen Verantwortlichkeit zu stellen. Andere Parteien schweigen. Andere gründen sich lieber neu in der Hoffnung, die Vergangenheitslinie auszulöschen oder zumindest zu verwischen zu können.

Das dürfen sie auch – das gehört zur Freiheit dazu. Wenn wir uns zu ihr bekennen. Aber wo sind dann die Grenzen der Freiheit? Bei den Gesetzen? Dem Wiederbetätigungsgesetz etwa? Die Antwort lautet Nein – wie die jüngste Geschichte des Parlamentarismus zeigt: es liegt lediglich an einer verschleiernden Wortwahl, daß die Staatsanwaltschaft auf ihre Freiheit verzichtet, eine Geisteshaltung als kriminell zu bewerten.

Die selben Menschen, die sich heute entsetzt dem Terror des Al Kaida Netzwerks gegenüber sehen, bemerken kaum, dass dahinter die selbe Geisteshaltung steht wie im Nationalsozialismus: die WIR haben Recht, weil WIR die besseren sind, die Anderen Unrecht, weil sie minderwertig, amoralisch, sündig – oder auch einfach nur weiblich sind.  (Den Aufbau derartiger faschistischer Denkstrukturen hat der Linzer Wirtschaftswissenschafter Walter Ötsch anschaulich dargestellt.)

Daher sehe ich Freiheit im Bewußtsein

  • des unvermeidlichen Wechselspiels von Machtausübung zugunsten oder zulasten von Gegnern, egal ob sie einander hassen oder lieben,
  • der Optionen auf unterschiedliche Verhaltensweisen und ihren Folgen und
  • der bewußten Entscheidung für eine verantwortete (und setze Drogenfreiheit voraus).
  • Und: Ich sehe keine Möglichkeit einer Freiheit von Werten!

Ohne jetzt auf die sozialen Formen von Gewalt wie Inszenierungen von Armut, Obdachlosigkeit bis zu Folter oder Terror im Namen von Wirtschaftsfreiheit, Religionsfreiheit oder umgekehrt der Berufung auf den Mythos von der Entscheidungsfreiheit, „Wo ein Wille – da ein Weg“, eingehen zu wollen, möchte ich festhalten: alle unsere Impulse, Entscheidungen und Handlungen laufen über unseren Geist – und damit über unser Zentralnervensystem. Und: wir haben viele „Geister“ – oder „Talente“, wie sie der amerikanische Psychologieprofessor Robert Ornstein benennt und nachgewiesen hat. Er schreibt: „Für manche Menschen ist die Gefühlsdimension die einzige Grundlage ihres Lebens, für andere ist es eine Dimension, die sie weitgehend ignorieren. Diejenigen, die ihre Gefühle ignorieren, betrügen sich ziemlich sicher nur. Denn es sind eindeutig unsere Gefühle, die unsere Meinungen bestimmen, ob wir das nun zugeben oder nicht.“

Folgen wir Ornstein, so könnten wir das Gefühl von Freiheit mehrfach zuordnen:

  • den „grundlegenden“ Talenten, die sich um kurzfristige Überlebensfragen konzentrieren (und vielleicht spontan Flucht oder Kampf veranlassen),
  • den „etwas komplexeren“, die sich auf Bewegungsplanungen beziehen (und zu Distanzierungen und anderen Abgrenzungen wie Kündigung, Scheidung, Emigration, etwa auch revolutionärer Art, motivieren) und
  • den „komplexesten“, die auf Selbstwahrnehmung und Denken zielen (und damit auch über das subjektive Erleben von Freiheit nachzusinnen oder – zwecks Vermeidung persönlicher Betroffenheit – über Freiheit angeblich objektiv zu philosophieren).

Auch wenn wir wähnen sollten, frei sein zu können: Freiheit hinkt immer der Unfreiheit nach. Das ergibt sich aus unserem Verhaftetsein im Raum-Zeit-Gitter: sie ist immer Ergebnis eines Bewußtwerdungsprozesses und – sie ist daher veränderlich und auch vergänglich.

Literaturhinweise:

Ornstein Robert, Multimind. Ein neues Modell des menschlichen Geistes. Ergebnisse der Humanwissenschaften für Erziehung, Therapie und Management. Junfermann Verlag Paderborn 1992

Ötsch Walter, Haider light. Handbuch für Demagogie. Czernin Verlag 2000

Perner Rotraud A., Hausapotheke für die Seele – Erste Hilfe von A(ngst) bis Z(orn). Deuticke Wien 2005

Perner Rotraud A., Kultur des Teilens – Einladung zu einem dialogischen Leben. Ueberreuter Wien 2002

Perner Rotraud A., Management macht impotent – Abschied vom Mythos Macher. Orell Füssli Zürich 1997

Picker Richard, Das Ende vom Lied? Positionen eines Lebens zwischen Hitlerjugend, Psychotherapie und Kirche. Czernin Verlag Wien 2005

Riemann Fritz, Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie.  Ernst Reinhard Verlag München Basel  1984